Schwabenweg :
2016
Liebe Familie, liebe Freunde und Wegbegleiter:
All die letzten Jahre habe ich von mir als Wanderin auf einer Lebensreise geschrieben ohne grosse, reale Wanderungen unter die Füsse genommen zu haben. Seit ich das Buch von Hape Kerkelin, ich bin dann mal weg, gelesen habe war mein grosser Wunsch einmal eine mehrwöchige Wanderung zu unternehmen.
Anfangs Jahr fing ich an, meine Reise zu planen. Drei Wochen sollten es werden. Immer habe ich betont, dass ich keine Pilgerreise, sondern eine Wanderung machen will. Erst wollte ich von Norden nach Süden, über den Gotthard wandern und entschied mich schliesslich für den Pilgerweg von Rohrschach nach Genf. Vielleicht weil die Wanderung so schön beschrieben ist? Weil ich bequem die Route auf mein Handy herunterladen konnte? Weil alle Übernachtungsmöglichkeiten aufgeführt sind? Weil es bequem ist, nicht selbst die ganze Reise planen zu müssen? Weil ich mich so nicht verlaufen kann? Warum auch immer.
Das Wetter brachte mich dazu, meine Pläne etwas nach Westen zu verschieben und den Schwabenweg ab Konstanz bis Einsiedeln und weiter Richtung Genf unter die Wanderschuhe zu nehmen.
Meine Reise jetzt hier im Detail zu erzählen dauert zu lange. Das Wetter war die ersten paar Tage mit mir. Rund um mich herum waren nur Gewitter-und Regenwolken zu sehen. Doch über mir wanderte eine kleine Wolkenlücke mit und liess mich trocken in Richtung Kloster Fischingen wandern.
Die erste Etappe war eine Wanderung wie jede andere, nur dass mich der zehn Kilogramm schwere Rucksack belastete und mit der Zeit immer schwerer zu werden schien. Die Füsse schmerzten mich schon nach wenigen Kilometer und ich war mit mir und meinem Körper beschäftigt. Schritt um Schritt. Die erste Etappe war geschafft und ich fuhr nach Hause. Tja, ich hätte am liebsten schon aufgegeben. Am ersten Tag. Doch meine Tochter verschrieb mir ein Bad, liess das Wasser in die Wanne, gab ein Badeöl um die Muskeln zu entspannen dazu und machte mir wohltuende Fusswickel. Alles mit der Bedingung, dass ich am nächsten Tag weiter wandere. Tatsächlich, am nächsten Tag fuhr ich ausgeruht zum letzten Etappenende, mit ausgemistetem Rucksack, und lief von dort aus weiter und übernachtete im Kloster Fischingen. Die Begegnungen waren speziell auf diesem Weg. Die Leute fragten mich nach meinem Ziel und ob ich pilgere, was ich verneinte. Sie erzählten mir Geschichten von Pilgern, ich traf Pilger, die wirklich pilgerten. Im Kloster begegnete ich einem ehemaligen Benediktinermönch. Wir philosophierten über seine Kurse (Meditation im Kloster), was es heisst im hier und jetzt zu sein, über Pilgerreisen, was es heisst zu pilgern. Seine Auslegung war sehr offen und herzlich und er freute sich für mich, dass ich mich auf diese Reise begab. Ich traf Pilger, die eine Pilgerreise mit Leistung verbanden. In drei Wochen kommt man locker bis Genf, ein guter Pilger geht auch bei Regen und garstigem Wetter, kennt keine Blasen an den Füssen und Schwächen. Ich bin nur eine Wanderin!
In der Nacht konnte ich nicht schlafen und kam zum Schluss, dass ich mich an diesem Punkt entscheiden musste, ob ich weiter wandere oder pilgere. Das macht einen riesigen Unterschied! Und wenn ich weiter wandere, müsste ich den Schwabenweg verlassen, denn hier werde ich immer wieder zur Pilgerin verdonnert. Oder ich pilgere weiter. Aber was heisst pilgern für mich? Leistung? Oder ist der Weg das Ziel? Meine Liebsten teilhaben lassen oder mich zurückziehen und mit mir alleine weiter wandern? Das macht mir nichts aus, ich bin gern allein. Die nächste Etappe war voll von diesen Gedanken. Die Worte des Benediktinermönchs gingen mir immer wieder durch den Kopf. Im hier und jetzt zu sein, sagte er, heisst, wenn ich koche, dann denke, mache ich nichts anderes. Wenn ich esse, mache ich nichts anderes, wenn ich gehe, dann gehe ich. Ich konzentriere mich auf meine Schritte, meine Füsse, auf die Umgebung und nehme wahr was ich sehe. Ich denke nicht an alles andere, das mir noch im Kopf herumschwirrt. Wenn ich pilgere, dann pilgere ich und wenn ich wandere dann wandere ich. Was will ich? Pilgern heisst, mich mit meinem Glauben oder Nichtglauben auseinander zu setzen. Was ist Glaube, Gott, Spiritualität für mich. Gerne hätte ich mit dem Mönch darüber philosophiert. Die Gelegenheit ergab sich nicht mehr.
Leider war das Wetter nach fünf Tagen so garstig, dass ich meine Reise abbrechen musste. Ich bin Themen begegnet wie Leistung, Selbstvertrauen und Sicherheit. Und Reduktion. Dieses Thema begleitet mich immer noch. Reduktion der Dinge die man mitnimmt auf die Pilgerreise. Was brauche ich wirklich? Der Rucksack ist immer noch zu schwer, nochmals auspacken, ausmisten neu packen, nochmals und nochmals. Nach der ersten Etappe ist es immer noch zu viel. Nochmals ausmisten. Was brauche ich wirklich? Süsses? Essen? Wein? Was tut mir gut? Reduktion des Gewichts. Ich habe einige Kilos reduziert in diesem Jahr. Kleider? Mich trennen von Altem, nicht mehr gebrauchten Ballast. Und es ist immer noch mehr als genug. Dieses Thema wird mich noch eine Weile beschäftigen. Auch Leistung in unserer Leistungsorientierten Gesellschaft ist ein zentrales Thema in meinem Leben. Es ist nie genug. Wer rastet der rostet und noch ein paar so „gute“ Sätze sind mir auf der Reise begegnet. Und wieviel Sicherheit brauchen wir? Das Vertrauen in den nächsten Tag, in die nächste Etappe, Vertrauen in den eigenen Körper, in die eigene Kraft, Vertrauen darauf, dass es gut kommt, einen Schritt nach dem andern ohne sich um das Morgen zu sorgen.
Erst dachte ich, diese Reise werde ich nicht fortsetzen. Doch es juckt mich bereits wieder an den Fusssohlen und ich weiss, dass ich weiterwandern werde. Als Pilgerin. Eine Pilgerreise heisst sich langsam fortzubewegen, sich entschleunigen, sich zu entdecken, sich zu begleiten, sich zu mögen oder mit sich zu hadern. Wunderbare Begegnungen mit Menschen und mit sich selbst, mit der eigenen Spiritualität.
Ich wünsche Euch allen eine gute Reise durchs 2017 mit vielen schönen Begegnungen.
Herzlichst Ursula Platzgummer